Nach einem Jahr der Polizeigewalt und Unruhen in den USA
Joshua Clover
Überlegungen des US-amerikanischen Literaturwissenschaftlers und Autors des Theoriebands »Riot. Strike. Riot. The New Era of Uprisings« zu den historisch-materialistischen Koordinaten der zunehmenden Aufstände in der westlichen Welt und der Strategie möglicher Umwälzungsprozesse
Als das Video mit dem neun Minuten dauernden Mord an George Floyd an die Öffentlichkeit gelangte, bestand wohl die Macht seiner Bilder nicht darin, dass diese etwas Außergewöhnliches zeigten. Das Video wirkte wohl eher deshalb so eindringlich, weil genau das Gegenteil der Fall war: Der Zuschauer verstand, dass das, was er zu sehen bekam, permanent geschieht – mal mehr, mal weniger überraschend, immer aber mit dieser offenen Brutalität, und zwar ohne Widerstand und Griff nach einer Waffe. Vielleicht wurde endlich klar, dass die Mörder zwar vier Polizisten sind, aber mit ihnen auch zugleich der rassistische Kapitalismus selbst, seine Eigentumsverhältnisse und sein Polizeiapparat.
Mit einem Schrei bricht der Krawall aus – und erlischt auch wieder. So will es zumindest die Überlieferung. Der bedeutende Historiker E.P. Thompson hat das als »spasmodische Sichtweise« beschrieben, der zufolge Krawalle gern als vorbewusste, spontane Reaktionen auf lokal begrenzte Reize abgetan werden. Man diskutiert mit großer Leidenschaft über sie, man schreibt sehr viel über sie, sie gehen in die Jahrbücher ein, und doch gelten sie als geschichtslos. Sie brechen aus Gründen aus, die kaum verstanden werden, bleiben auffallend unerklärt und haben so gut wie keine Theorie hervorgebracht. Unruhen und Krawalle ereignen sich in der Geschichte, aber sie machen keine Geschichte – sie finden einfach statt.
Folglich spielen Krawalle auch kaum eine Rolle in Revolutionstheorien. …
Übersetzung: Maciej Zurowski / Susann Witt-Stahl
»Riot. Strike. Riot« erscheint im Januar 2021 in deutscher Übersetzung:
[↗] galerie-der-abseitigen-kuenste.de/publikation/riot-strike-riot
Der komplette Beitrag erscheint in der Melodie & Rhythmus 1/2021, erhältlich ab dem 18. Dezember 2020 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.