Die US-amerikanische Avantgarde-Tonkünstlerin Diamanda Galás nähert sich Pandemien und anderen Katastrophen mit seismografischen Wahrnehmungen
Interview: Leon Engler
Sie schafft seit 40 Jahren Kunst, die die politischen Verhältnisse ihrer Gegenwart kritisch reflektiert. Dabei sind Pandemien ein wiederkehrendes Motiv. Auf dem 1988 veröffentlichten Anthologiealbum »Masque of the Red Death«, mit dem Galás eine große Bekanntheit erlangte, ließ sie das Leiden von HIV-positiven Menschen in ihrem Land beredt werden. M&R sprach mit Galás über ihr neues Werk »De-formation: Piano Variations« – ein 21-minütiges Klavierstück, das das Ergebnis einer langjährigen Auseinandersetzung mit dem 1911 erschienenen Gedicht »Das Fieberspital« des frühexpressionistischen Lyrikers Georg Heym ist, der zwei Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Alter von nur 24 Jahren tödlich verunglückt war. Ein weiterer Impulsgeber war der Fotoband des Sozialisten und Pazifisten Ernst Friedrich »Krieg dem Kriege« von 1924.
Das Gedicht »Das Fieberspital« über das Siechtum und qualvolle Sterben von Gelbfieberpatienten, das Sie auch als Paradigma des Grauens der Entfaltung von zerstörerischen Produktivkräften in der industrialisierten Moderne verstehen, ist Grundlage Ihrer jüngsten Arbeit. Inwiefern hat es Sie beeinflusst?
Der Ausgangspunkt meiner Arbeit war zwar Heyms Gedicht. Doch ich arbeite auch schon so lange an dieser Komposition und habe eines Tages erkannt, dass ich etwas geschrieben hatte, das auch als reines Klavierstück funktionieren würde. Das wollte ich schließlich getrennt aufnehmen, um eine zentrale Partitur zu schaffen, auf die ich mich immer beziehen kann, wenn ich sie um Stimmen für meinen Gesang oder um elektronische Elemente erweitern möchte.
Sie haben sich auch mit den Kriegsbildern von Ernst Friedrich beschäftigt, die entstellte Gesichter von verwundeten Soldaten schonungslos zeigen.
Diese Fotos haben mich tief bewegt. Ich glaube, das Gesicht steht stellvertretend für den Menschen. Wenn es zerfetzt wird, verschwindet sogleich die Möglichkeit zu kommunizieren. Als diese versehrten Soldaten damals heimkehrten, sagten ihre Kinder: »Das ist nicht mein Vater.« Die Frauen konnten ihren Männern nicht mehr ins Gesicht blicken. Viele jener Soldaten beschlossen deshalb, gar nicht mehr nach Hause zu kommen, sondern lebten stattdessen auf der Straße, bettelten um Nahrung oder zogen sich in die Wälder zurück. Nicht selten führte diese isolierte Lebensweise zum Selbstmord. Ich kann mir diese schreckliche Zeit nicht vorstellen.
Sie scheuen sich nicht vor einer künstlerischen Auseinandersetzung mit traumatischen Ereignissen. Sie haben beispielsweise ein Album zum Massenmord an den Armeniern gemacht, sich mit Folter, Todesstrafe und Ökozid befasst. Auf welchem Verständnis von der Beziehung zwischen Politik und Kunst basiert Ihre Arbeit?
Ich widme mich beständig den Randfiguren, den Ausgestoßenen und stelle die Frage, wie diese ihr Schicksal überleben können. Während des Völkermords an den Armeniern wurden alle, die nicht sofort getötet worden waren, in die Wüste geschickt. …
[≡] Diamanda Galás
De-formation: Piano Variations
Intravenal Sound Operations
Das komplette Interview erscheint in der Melodie & Rhythmus 1/2021, erhältlich ab dem 18. Dezember 2020 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.
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