Melodie & Rhythmus

Attacken auf die linksliberale Komfortzone

27.12.2017 14:51

Riesenskandal
Foto: Instagram@Sozi36

Graffiti-Künstler Sozi36 sprüht gegen den Ausverkauf Kreuzbergs, Gute-Laune-Street-Art und neoliberale Popkultur

Interview: John Lütten

Die Graffiti- und Street-Art-Szene macht eher selten durch radikale Kritik von sich reden. Klar, gegen Rassismus und Nazis sind irgendwie fast alle. Aber Sozi36 aus Berlin meint, es darf ruhig ein wenig mehr sein – und hat auch den linksliberalen Wellness-Oasen den Kampf angesagt. Seit den 90er-Jahren aktiv, hat sich der Sprüher von den Vorstädten Pretorias bis hin zu einem deutschen Gerichtssaal schon überall verewigt. Daheim versieht der Kreuzberger, der anonym bleiben möchte, vor allem auf den Straßen lagernden Sperrmüll mit oftmals ironischen, immer unmissverständlichen Kommentaren zu Weltgeschehen, Gentrifizierung und reaktionären Entwicklungen in der Popkultur. Mit M&R sprach er über seine Arbeit, seinen Stadtteil und »Linke« aufseiten der Bourgeoisie.

Die meisten Street-Art-Künstler verzieren Wände, Sie vor allem Matratzen und was sonst noch in den Straßen herumliegt – wie kommt’s?

Ich bin nach einer repressionsreichen Jugend auf die abgestellten Dinge umgestiegen. Zuerst war das ein Kompromiss, aber dann habe ich die vielen Möglichkeiten des Sperrmülls als Medium für mich entdeckt – durch Farbe und Botschaft wird das Straßenleben etwas sichtbarer!

Dabei sind Sie vor allem in Kreuzberg aktiv und thematisieren auch immer wieder die Entwicklung des Bezirks. Was bedeutet dieser Ort für Sie?

Ich habe als Jugendlicher im Nachklang der rebellischen Vergangenheit des Stadtteils hier ein Stück Heimat gefunden, denn Regeln und Gesetze waren hier verhandelbar und nicht in Stein gemeißelt. Umso bitterer ist die ausverkaufte Gegenwart der tausend Klubs und Burgerläden. Alle schmücken sich mit dem Flair von Kreuzberg, aber nur noch wenige sind bereit, etwas davon zu leben: Es ist wie eine Sexparty, wo alle nur zugucken. Doch ich bin niemand, der hauptsächlich Zugezogene, Hipster, Künstler oder Touristen dafür verantwortlich macht, dass der Stadtteil der Underdogs von der Bildfläche verschwunden ist. Erstens ist die Mittelschicht als solche nicht mein Feind, und zweitens sehe ich die Ursachen in der Orientierungslosigkeit der politischen Bewegungen.

Nun dürfte aber gerade die Graffiti- und Street-Art-Szene zu jenem »bunten« und »alternativen« Touch beitragen, dessen Vermarktung Sie kritisieren. Was setzen Sie dem entgegen?

Tristesse ist keine Alternative, Fremdvermarktung sollte kein Argument sein, seine Kunst nicht auf die Straße bringen zu dürfen. Aber ich denke, dass die ganze GuteLaune-Street-Art sich natürlich für die Kommerzialisierung anbietet bis anbiedert. Viele Werke und Künstler sind toll, und sie wollen die Stadt und die Gesellschaft zum Positiven verändern, indem sie den Menschen ein Lächeln entlocken. Doch diese Künstler sind auf dem Holzweg: Die Welt ist nicht schlecht, weil die Menschen zu wenig lächeln, sonders andersherum. Statt Wohlgefühl gibt’s bei mir Attacken auf die Komfortzone.

Sie wenden sich dabei auch immer wieder gegen neoliberale Popkultur: Die Antilopen Gang etwa sei »Soundtrack für Eurochauvinismus«, ihre Texte so »erfrischend, mutig und subversiv wie ein Abo der Berliner Morgenpost«, schrieben Sie auf eine Matratze.

Ja. Ein Vergleich: K.I.Z. und die Antilopen lassen in ihren Liedern »Hurra die Welt geht unter« und »Baggersee« die Welt enden und als Utopie wiederauferstehen. Doch während K.I.Z. das Bild einer nichtkapitalistischen Welt zeichnen, in der es allen besser geht, einer Zukunft, bei der man sich sofort wünscht, sie selbst noch erleben zu dürfen, bleibt die Welt bei den Antilopen die gleiche – nur halt ohne Deutschland. Dasselbe kapitalistische Elend. Aber macht ja nichts: Die Antilopen fahren, eingekleidet in eine USA-Fahne, Tretboot auf einem See mit einem Cocktail in der Hand. Sie behaupten nicht von sich, links zu sein, sprechen sich sogar eindeutig gegen alles Linke aus – und trotzdem lässt man sie sich als die RAF des Deutschrap präsentieren. Dabei sind sie eher die Junge Union!

Sie beziehen Stellung gegen Imperialismus, »Antideutsche« und »NATO-Linke«. Eine Ihrer Arbeiten kritisiert die Wochenzeitung Jungle World: »Fuck Jungle World« steht dort in Schwarz-Rot-Gold. Was stört Sie?

Gleicher Fall wie bei den Antilopen: Für die Jungle World besteht das Problem der imperialistischen Kriege darin, dass es nicht genug davon gibt. Sie verstehen sich als »Antideutsche«, finden sich aber bei entscheidenden Fragen zuverlässig im Lager der deutschen Bourgeoisie. Ihre Position zu Sexarbeit und Gender-Identitäten ist mir dann herzlich egal, denn sie stehen auf der anderen Seite. Doch mehr als die Antilopen oder die Jungle World regen mich ihre Fans, die Leser und viele Linke auf, die in diese Strömung fortschrittliche Inhalte hineinprojizieren und sie damit salonfähig machen. Für mich ist das alles nur Alt-Right minus Homophobie.

So eine kritische Haltung schmeckt nicht allen – wie fallen die Reaktionen auf Ihre Arbeiten aus?

Es gibt Menschen, die regen sich tierisch auf, dass man Müll anmalt, und es gibt welche, die sich nur aufregen, wenn ich das mache. Andere betreiben Aufwand, um meine Sachen verschwinden zu lassen – aber die positiven Reaktionen überwiegen bei Weitem. Trotz all des »Hates«, den ich verbreite, sind doch viele froh, dass es diese Arbeiten gibt!

Das Interview lesen Sie in der Melodie & Rhythmus 1/2018, erhältlich ab dem 29. Dezember 2017 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.

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