Melodie & Rhythmus

Den Rhythmus wiederfinden

28.12.2015 14:23
Foto: Reuters

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Musiker erzählen vom künstlerischen Neubeginn fern der Heimat

Künstlerischer Ausdruck ist anfällig: In Zeiten von Krieg und wirtschaftlicher Not gehört er zu jenen Praktiken, die als erstes zu verstummen drohen. Gerade deshalb stellen durch Migration und Flucht geprägte Lebensabschnitte bei Musikern, die einen professionellen Anspruch verfolgen, eine besonders tiefe Zäsur dar. Es heißt nicht nur, Abschied von Zuhause zu nehmen und dabei Freunde und Familie zurückzulassen. Es heißt allzu oft auch, einer bereits etablierten musikalischen Infrastruktur den Rücken zu kehren, die eigene Produktivität auf die Erfordernisse der Mobilität zuzuschneiden und seinen künstlerischen Lebensmittelpunkt an einen fremden Standort zu verlagern – in der Hoffnung, dass die kreativen Quellen dort freier sprudeln. M&R traf Musiker, die ihre Heimat verlassen haben, und fragte nach: Wie finden sie in fremder Umgebung neue künstlerische Inspiration? Mit welchen konkreten Problemen haben sie zu kämpfen? Und wie lassen sie ihre Erfahrungen des Unterwegsseins in ihre Kunst einfließen?

In der gedruckten Ausgabe finden Sie die Statements der folgenden Musiker. Weitere Stimmen, die es aus Platzgründen nicht ins Heft geschafft haben, finden Sie unten:

Ali Jabor, 29, ist in Bagdad zu Zeiten des Ersten Golfkriegs geboren und aufgewachsen. Dort hat er Musik studiert und gelehrt. Im April 2013 floh er aus dem Irak, weil er wegen seiner Musik von islamistischen Milizen angegriffen und verletzt worden war – ein Mitglied seiner Band wurde getötet; er musste um sein Leben fürchten. Heute lebt Jabor in Friedrichstal. Er spielt auf der Oud, der orientalischen Kurzhalslaute, die schon vor Jahrhunderten in Mesopotamien erklang.

Raed Jazbeh wurde im syrischen Aleppo geboren und studierte Kontrabass an der Musikhochschule in Damaskus. Seit 2008 hat er sich verstärkt in der Kinder- und Jugendarbeit engagiert. Als das Konzerthaus Berlin ihn 2013 gemeinsam mit dem Arab Youth Philharmonic Orchestra zu einem Gastspiel einlud, blieb er in Deutschland. In Bremen, wo er seither lebt, hat er im vergangenen Jahr das Syrian Expat Philharmonic Orchestra (SEPO) gegründet.

Roberto Rivera Noriega, geboren 1939, wuchs in Valparaíso in Chile auf. Mit seiner Gruppe Tiemponuevo (Neue Zeit), die der Bewegung des Neuen Chilenisches Liedes zuzurechnen ist, unterstützte er den Wahlkampf Salvador Allendes und die kulturellen Aktivitäten der Unidad Popular. Nach dem faschistischen Putsch am 11. September 1973 flüchtete er mit zwei Kollegen zunächst nach Argentinien und von dort in die DDR. Neben Liedern schreibt der Berliner auch Theatermusiken.

Songhoy Blues, das sind Aliou, Oumar und Garba Touré sowie Nathanael »Nat« Dembele. Die Mitglieder der Gruppe sind zwischen 25 und 29 Jahre alt und gehören dem Volk der Songhoy an. Es lebte seit Jahrhunderten im Norden Malis am Ufer des Niger zwischen den Städten Timbuktu und Gao – in jenen Städten, aus denen Aliou, Oumar und Garba stammen. 2012 flohen die drei vor militanten Islamisten in den Süden. An der Universität von Bamako trafen sie auf Nathanael, der in Ségou aufgewachsen ist.

Frank Dumnoi, 40, ist in Lagos, Nigeria, geboren und in Festac Town aufgewachsen, wo er DJ war. Weil er mit den herrschenden traditionellen Werten in Konfl ikt kam und deshalb mit dem Tod bedroht wurde, musste er fl iehen. Zunächst wollte er durch die Wüste entkommen, wurde aber aufgegriff en und zurückgebracht. 1997 gelang es ihm dennoch, Nigeria in Richtung Europa zu verlassen – zusammen mit Verwandten, die auf der Flucht starben. Heute lebt Dumnoi alias DJ Ziggy D in Wien.

Ahmed Asery, 1985 im Jemen in der Küstenstadt Aden geboren, hat 2011 mit seiner Reggae-Band 3 Meters Away die Proteste gegen die mehr als 30 Jahre dauernde Präsidentschaft Ali Abdullah Salehs unterstützt. Wegen seines öff entlichen Engagements hat der studierte Mediziner seine Heimat mehrfach verlassen müssen – zunächst nach Äthiopien und Dschibuti, später nach Sudan und Jordanien. 2014 studierte er in London Kulturmanagement, seit November 2015 lebt er in Niedersachsen.

Wabuza Lemvo, 39, ist in Kinshasa in der Demokratischen Republik Kongo geboren. Dort lebte er bis zu seinem elften Lebensjahr. Seine Familie musste ihr Heimatland aus politischen Gründen verlassen und emigrierte nach Deutschland. Als sie in den Kongo zurückkehrte, blieb Lemvo in Wuppertal, um weiter zur Schule zu gehen. Er rappt auf Lingala, übersetzt die Texte in seinen Videos aber in mehrere Sprachen.

Den kompletten Artikel lesen Sie in der Melodie und Rhythmus 1/2016, erhältlich ab dem 30. Dezember 2015 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.

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Die folgenden Statements konnten nicht mehr in der Ausgabe veröffentlich werden:

HOSAIN AMINI
hosainUm dem Krieg unter den angestammten Volksgruppen Afghanistans zu entgehen, flüchtete die Familie von Hosain Amini kurz nach seiner Geburt in den Iran. Hosain wuchs in der Stadt Esfahan auf, entdeckte den Hip-Hop und begann im Alter von 15 Jahren, politische Lieder zu schreiben, die die Zivilpolizei auf den Plan riefen und seine Familie in Lebensgefahr brachten. Über die Türkei reiste er nach Griechenland, wo er als Straßenmusiker seinen Lebensunterhalt verdiente. 2011 flog er mit gefälschtem Pass nach Berlin und zog zu einem Privatvormund nach Hamburg, wo der 21-Jährige auch heute lebt. Größere Bekanntheit erlangte Amini alias MC Trelos durch seine Zusammenarbeit mit dem Musiker Heinz Ratz.

Die drei Jahre unterwegs waren eine große Erfahrung für mich. Der Weg hat meine Musik auf jeden Fall verändert, hat ihr mehr Tiefe gegeben. Erst jetzt kann ich über bestimmte Sachen schreiben, z.B. darüber, wie allein sich ein Flüchtling fühlt, wenn er gar kein Geld, gar kein Essen hat. Es gibt unterschiedliche Schicksale, und manche der Flüchtlinge sind länger unterwegs als ich, andere erreichen ihr Ziel schon nach 20 Tagen oder einem Monat. Ich selbst konnte während meiner Reise über die Musik mit meiner Umwelt kommunizieren, aber es gab auch Leute, die einfach Außenseiter waren, weil die die Sprache nicht konnten. Die verpassen so viele Sachen. Die Sprache ist der Schlüssel für alles. Wenn man die Sprache nicht spricht, kann man nicht mal Kaugummi kaufen … Momentan stelle ich zu Hause mein Album »Sukut« (Ruhe) fertig; ein Kumpel aus dem Tonstudio wird ihm den letzten Schliff verpassen. Auf diesem Album komme ich mit verschiedenen Personen ins Gespräch: Da ist unserer Präsident im Iran, da ist das bürokratische System in Deutschland, das ich einfach nicht verstehe. Man kann allerdings nicht immer nur so ernste Themen anschneiden – man braucht ab und zu auch Fun und Dance! Nach »Sukut« will ich weiter Musik machen. Ohne Musik ist das Leben doch langweilig. Musik hat mich immer motiviert. Ich habe wegen der Musik gekämpft. Ich glaube, ohne sie würde ich heute nicht hier sein … Ich bin oft mit meinen Freunden unterwegs auf der Straße, und wir versuchen unsere Umgebung als Instrumente zu benutzen. Wir wollen zeigen, dass man mit allem Musik machen kann. Viele Künstler arbeiten im besten Studio, mit dem besten Mischpult – aber interessant wird es doch erst, wenn du keine Möglichkeiten hast und trotzdem was Bombiges daraus machst.

REVELINO MONDEHI SERY
revelino_mondehiRevelino Sery, 26, geboren und aufgewachsen in der Elfenbeinküste, floh während der Regierungskrise 2010 mit seiner Familie zunächst in die Küstenstadt San-Pédro, wo er und sein Adoptivvater in die Gewalt von Soldaten gerieten. Nach seiner Freilassung floh Sery auf einem Containerschiff nach Hamburg. Nach langer Zeit im Asylbewerberheim Blankenburg erhielt Sery im Januar 2015 seine Aufenthaltserlaubnis. Er lebt mit seiner Lebenspartnerin und zwei Kindern in Oldenburg.

Als kleiner Junge habe ich im Kirchenchor gesungen – bis ich 14, 15 Jahre alt war. Mit einem Freund habe ich den Reggae entdeckt. Wir wollten professionelle Musiker werden, ins Studio gehen und eine CD aufnehmen. Aber das war noch vor dem Bürgerkrieg. Als ich in Deutschland ankam, konnte ich erstmal keine Musik mehr machen. In Blankenburg durften wir gar nichts außer Abwarten. Ich hatte kein Instrument und wusste auch nicht, woher ich eines bekommen konnte. Blankenburg war wie ein Gefängnis, fast alles war verboten – ich war ziemlich deprimiert! Das Refugee-Projekt von Strom und Wasser ist für mich da zu genau dem richtigen Zeitpunkt gekommen: Wir konnten frei reisen, auf der Bühne stehen, Musik machen, feiern und uns mit dem Publikum unterhalten. Ich habe mich so viel freier gefühlt, das hat meinem Kopf sehr geholfen. Ich habe auch einen Song geschrieben, Teile daraus sind in dem Lied »Alle machen mit« verarbeitet. Darin gebe ich jungen Afrikanern zu verstehen, wie gefährlich es ist, mit dem Schiff zu reisen. Ich beschreibe das Schiff als ein großes Haus auf dem Meer – das gleitet so schön und einladend über das Wasser, aber in seinem Inneren lauert Gefahr. Musik besteht aber nicht nur aus Text. Wenn man eine gute Melodie hört, regt sich in einem sofort ein besonderes Gefühl. Dann ist es egal, in welcher Sprache das Lied geschrieben steht. Seit dem Projekt bin ich zwar nicht mehr als Musiker aktiv, aber ich würde auf jeden Fall weitermachen. Ich arbeite gerade in einer Firma als Maschinenführer. Wenn ich diese Arbeit beenden möchte, muss ich zunächst ein richtig gutes Musikprojekt vorlegen, mit dem ich es schaffe, mich selbst zu finanzieren. Wenn ich eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis bekomme, kann ich vielleicht versuchen, wieder weiter in Richtung Musik zu gehen.

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