Melodie & Rhythmus

Brücken bauen

28.12.2015 14:49
Foto: picture-alliance / ZB

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Tino Eisbrenner: Über die Anschläge von Paris und seine »Musik statt Krieg«-Tour

Interview: Matthias Rude & Susann Witt-Stahl

Tino Eisbrenner gehört zu den wenigen Musikern, die sich kritisch zum Medienhype um die Pariser Anschläge geäußert haben. Er fordert: Künstler sollen sich gegen die Kriegshetze stellen.

Was war Ihr erster Gedanke, als Sie von den Anschlägen erfuhren?

Es rückt näher. Wieso Paris? Welcher Stadtteil? Dann habe ich mich erschrocken, weil ich merkte, dass es nicht zuerst mein Herz angesprochen hat. Zu viele solcher Nachrichten gab es in letzter Zeit, nicht über alle sprechen wir. In der russischen Passagiermaschine sind mehr Menschen gestorben, aber niemand hat behauptet: »Wir sind Russland.« Natürlich hat die Pariser Tragödie eine Symbolik. Also sprechen wir darüber.

Die Auswahl der Terrorziele wurde als Indiz für einen Angriff auf »unsere Kultur« beschrieben. Befinden wir uns in einem Kulturkampf: »Zivilisation gegen Barbarei«?

Einfaches Beispiel: Als die großen Kolonialmächte Millionen Indianer meuchelten, taten sie das »im Namen Jesu«. Als die US-Amerikaner dieses Werk bis in die 1970er-Jahre fortsetzten, taten sie das »im Namen der Zivilisation«. Heute aber wissen wir, dass dies alles nichts mit den Lehren der Bibel zu tun hatte noch ein Akt von Zivilisation war, sondern nur Macht- und Besitzgier. Genauso verlogen sind die Behauptungen des IS, der uns schon mit seinem Namen suggerieren will, er sei das, was Allah wolle. Ich kenne wahrhaft gläubige Christen und Moslems. Sie würden nie das Schwert gegen einen Menschen erheben. Und ja, wir befinden uns in einem Kulturkampf! Aber in einem ganz anderen Sinn als man uns einreden möchte. Und zwar deshalb, weil uns der Kampf um Besitz weit weggebracht hat von den eigentlichen Werten unserer Kulturen – auf allen Seiten. Unsere westliche Welt lebt von Globalisierung. Unser System hat sich als das stärkere erwiesen – gegenüber dem Ostblock und sozialistischer Wirtschaft, gegenüber der Dritten Welt. Unsere Krake ist effizienter, und so greift sie nach allem, was sie sich einverleiben kann. Wir sind nicht Kopf, aber Tentakel dieser Krake. Es wäre toll für die Krake, wenn wir Völker ihr Treiben damit rechtfertigen würden, dass wir uns in einem Kampf der Kulturen befinden. Dann würden wir moderne Kreuzzüge unterschreiben. Stattdessen sollten wir uns bei der Verteidigung unserer Kultur mal nach innen wenden. Lassen sie uns bei den brüllenden Brandstiftern nachfragen, wer Johannes Brahms ist oder worum es im »Faust« geht. Da ist unsere Kultur, die es zu verteidigen gilt, weil sich mit ihr nämlich Werte vermitteln, von denen unsere sogenannten »Verteidiger deutscher Kultur« offenbar nie gehört haben. Das Gleiche gilt übrigens auch auf der anderen Seite. Kein Kämpfer des sogenannten IS hat je Aristoteles gelesen. Da wette ich drauf. Wir alle müssen uns vor der Barbarei in den eigenen Reihen schützen. Und die resultiert aus Bildungsferne und Kulturlosigkeit – wie eh und je.

Einige Bands, wie U2 oder die Foo Fighters, sagten ihre Konzerte in der französischen Hauptstadt sofort ab. Andere verbreiten Durchhalteparolen wie »jetzt erst recht«. Was halten Sie von diesen Reaktionen?

Bands wie U2 sind ja nicht zuletzt durch ihr politisches Engagement berühmt geworden. Es hätte also durchaus sein können, dass für ihr Konzert ebenfalls ein Anschlag geplant gewesen wäre. Ich finde es deshalb vernünftig, abzusagen und damit auch viel Geld in den Sand zu setzen – aber für die Sicherheit der Menschen. Im ersten Moment ist das ja auch eine Art Flucht vor dem Terror – wodurch vielleicht etwas deutlicher wird, was die Menschen zu uns treibt, die den Krieg täglich und minütlich erleben.

Was halten Sie davon, die Debatte um die Flüchtlinge, samt Forderung nach einer »Begrenzung«, an die Anschläge von Paris zu knüpfen, mit Verweis auf eine angeblich erhöhte Terrorgefahr?

Nichts. Wie Paris bewiesen hat, kommt die Gefahr aus den eigenen Reihen. Sie kommt von den sozialen Unterstufen, von den Bildungsfernen, Kulturlosen, die längst zu uns gehören oder sogar immer zu uns gehört haben. Gelenkt von den Krakenköpfen, die sie für ihre Zwecke missbrauchen.
Solange wir Kriege anzetteln, Regionen destabilisieren, eine »Achse des Bösen« zeichnen – um dort einzumarschieren –, Waffen liefern, terroristische Gruppen ausbilden, die wir dann später zum Feind erklären, so lange wird es Kriege geben, und Menschen werden davor fliehen. Und mir ist es lieber, dass wir Flüchtlinge aufnehmen, als dass wir wieder zu welchen werden, wie vor 70 Jahren. Wir müssen aufhören, nur über die Spitze des Eisberges nachzudenken, sondern uns der ganzen Wahrheit stellen. Dann wissen wir auch, was es zu tun gilt. Es fängt vor unserer eigenen Haustür an. Wir sorgen für all das, was uns jetzt Angst macht!

Auch die Eagles of Death Metal aus dem Lager der religiösen Rechten in den USA inszenieren sich als Verteidiger des Abendlandes. Eine Facebook-Fan-Aktion soll einen ihrer Songs weltweit auf Platz eins der Charts katapultieren.

Ja, genau, »Save a Prayer«, eine Coverversion – wäre ich Duran Duran, würde ich das mit meinem Song untersagen, denn es ist nie nur das Was, sondern immer auch das Wer, das den Dingen eine Aussage gibt. Ein Umstand, den auch die Pegida-Demonstranten konsequent ignorieren und dadurch Leuten hinterherlaufen, die partiell sogar das Richtige fordern, deren Absichten aber kreuzgefährlich sind.

Bei vielen deutschen Musikern scheint die Kritikfähigkeit ausgesetzt zu haben. »Vive la France« verkündete etwa die Band Kraftklub, während die französische Regierung bekannt gab, sie werde »gnadenlos« mit Krieg reagieren.

Sich zu solidarisieren mit Menschen in Angst und den Toten zu gedenken, ist absolut richtig. Aber wir dürfen dies nicht nur in eine Richtung tun. Ich liebe Paris, ich spreche Französisch und habe Freunde dort. Aber ich habe auf Facebook nicht die französische Flagge gehisst, denn ich bin auch Russland, Ukraine, Syrien, Afghanistan. Und ich hisse all diese Flaggen für die einfachen Menschen, die unter verlogenen Losungen spiralartiger Kriegshetze geopfert werden. Künstler sollten sich jetzt mutig äußern – auch wenn das keine kommerziellen Erfolge verspricht oder sich Fans sogar abwenden. Ich beispielsweise polarisiere ständig, wenn ich für ein Miteinander von Deutschen und Russen werbe. Russland hat uns schon zweimal den Weg freigemacht für eine bessere deutsche Zukunft. Einmal mussten sie kommen dafür – einmal gehen. Die Amerikaner sind nicht gegangen 1990, und sie sind 1944 auch erst gekommen, als sie fürchten mussten, dass die Russen Hitler allein schaffen. Ich gehe jetzt wieder auf »Musik statt Krieg Tour«. Wir müssen Brücken bauen!

Kann Musik Kriege verhindern?

Musik kann Kultur im wirklichen Sinn stärken und vermitteln. Sie kann bilden, die Herzen regen, Grenzen überfliegen. Die Kunst zeigt, wer wir sind und wie wir zueinander finden können – nämlich gerade über unser Kulturverständnis und unsere Herzen. Und das alles, wenn die Bewegung groß und stark genug wird, verhindert Kriege oder beendet sie, wo sie schon lodern.

Das Interview erscheint in der Melodie und Rhythmus 1/2016, erhältlich ab dem 30. Dezember 2015 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.

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