Wer erinnert sich nicht an Nina Hagens Version des The- Tubes-Songs »White Punks on Dope« von 1978. Die Textzeilen aus ihrem »TV-Glotzer«, »Ich kann mich doch gar nicht entscheiden. Ist alles so schön bunt hier!«, sind zum geflügelten Wort geworden. Sie charakterisieren auch den Zustand des Fernsehens nach einem Neoliberalisierungsprozess, der nunmehr 30 Jahre andauert, seit mit dem Sendestart von SAT.1 im Jahr 1984 auch in Deutschland die Ära des Privatfernsehens begonnen hat.
Ob als Soundtrack, Jingle oder Pausenfüller: Populäre Musik ist aus dem Fernsehen nicht wegzudenken. Pop wiederum hätte ohne Fernsehen erheblich weniger Verbreitung erfahren. M&R beleuchtet in dieser Ausgabe das Musikfernsehen heute und das vielfältige Verhältnis zwischen Pop und TV. Dazu rollen wir die bewegte und wechselvolle Geschichte des Musikfernsehens auf, bis zurück in die 50er- und 60er-Jahre mit »Oh Boy« und dem »Beat-Club«. Wir widmen uns der politischen Ökonomie des Musikfernsehens, das ein Markt der Giganten ist, und legen ein besonderes Augenmerk auf das erfolgreichste Format der jüngeren Vergangenheit – den Videoclip.
Wie immer stellt M&R auch kritische Analysen an: Wir befragen den Autor von »Markenmusik«, Stefan Strötgen, nach der Rolle der Musik als Instrument – mehr oder weniger – sanfter Überredung in der TV-Werbung (Audiobranding). In Kriegszeiten geht es rabiater zu. Beeinfl ussung steigert sich zu handfester Manipulation. Das Beispiel 9/11 und die darauf folgende Angriffskriegspropaganda zeigen, welche unrühmliche Symbiose Pop und TV bei der Inszenierung des »Tötens in Haufen« (Elias Canetti) als Gesamtkunstwerk eingehen.
Krieg und Krisen bildeten die Leitmotive des soeben zu Ende gegangenen Jahres. Wenn die Welt immer tiefer in Chaos und Gewaltexzesse absinkt, bleiben Kunst und Kultur nicht außen vor – ob die Akteure wollen oder nicht. Die Mehrheit versucht dennoch, die Konflikte schweigend auszusitzen; aber auch erschreckend viele bieten einmal wieder den Masters der Desaster willfährig ihre Dienste an. Andere wiederum organisieren sich und kämpfen dagegen: die Frontfrau der Band Serenísima in Mexiko, die zusammen mit 30 anderen Musikern einen »Grito de Guerra« gegen den schmutzigen Pakt ihrer korrupten Regierung mit dem organisierten Verbrechen komponiert hat, ebenso der kurdische Gitarrist und Sänger Mikail Aslan. Er meint, »auch die Kunst muss standhalten« und spielt Soli-Konzerte für Kobanê und die Kriegsflüchtlinge.
Für eine kritische Popkulturzeitschrift wie M&R versteht es sich von selbst, dass diese und andere widerständige Künstler ausführlich zu Wort kommen müssen. Das gilt auch für einen, der so früh sterben musste, dass er heute nichts mehr sagen kann – uns aber viel zu sagen hatte: Gerhard Gundermann. Aus seinen Liedern strömte so viel Weitsicht, dass sie oftmals als mitten ins Schwarze treffende Kommentare auf unsere bittere Gegenwart wirken. Daher haben wir dem Künstler zu seinem 60. Geburtstag das Feature dieser Ausgabe gewidmet.
Liebe Leser, wir alle sollten uns von solchen Musikern und ihren Werken inspirieren lassen im neuen Jahr. Denn da machen wir ja bekanntlich alles besser und vielleicht sogar alles gut, nicht wahr?! Na, zumindest aufgeben und uns wie Nina Hagens »TV-Glotzer« nur noch vorgegaukelte »Happiness, Flutsch-Flutsch! Fun-Fun!« reinziehn – das werden wir auf keinen Fall.
Susann Witt-Stahl
Chefredakteurin M&R